«Auf Tour bin ich Beifahrer, Gesprächspartner und Berufsberater»

Seit seiner Pensionierung vor sechs Jahren ist Henry Goldmann freiwillig für die Schweizer Tafel auf Tour. Körperlich aktiv sein, Kontakte knüpfen und wohltätig sein – mit seiner Tätigkeit bei der Stiftung vereint er all seine Interessen.

Die Basisarbeit von Henry Goldmanns Tätigkeit bei der Schweizer Tafel besteht grundsätzlich daraus, mit dem Kühlwagen Touren im Raum Zürich zu fahren. Beim Treffpunkt in der Zentrale in Dietikon gibt es am Morgen ein kurzes Briefing vom Regionenleiter, anschliessend fahren die sechs Transporter los. Henry und sein Mitfahrer holen auf ihren vorgegebenen Touren überschüssiges Essen bei Grossverteilern ab und bringen es zu Institutionen, welche von Armut betroffenen Menschen unterstützen. Es wird vorgegeben, welche Filialen auf welcher Tour abgeklappert werden.
Die Lebensmittel ein- und auszuladen ist eine körperlich sehr anstrengende Tätigkeit und man muss fit dafür sein. «Ich bin sehr sportlich, darum ist das kein Problem für mich, sondern viel eher ein schöner Nebeneffekt der Arbeit», sagt Henry. Einmal habe er aber dennoch Pech gehabt und sich einen Leistenbruch eingeholt, ergänzt er. Er passe nun besser auf.

«Tasting Not Wasting»

Nach seiner Pensionierung vor sechs Jahren war für Henry Goldmann klar, dass er selbständig als Unternehmer tätig sein wollte. Er bietet seither Coachings für Menschen an, die ihre berufliche oder private Auftrittskompetenz optimieren wollen, oder vor wichtigen Lebensentscheiden stehen. Gleichzeitig hielt Henry Ausschau nach einem sinnvollen, aktiven und freiwilligen Engagement.
Auf die Schweizer Tafel wurde er durch einen Wohltätigkeitsevent im Nobelhotel Baur au Lac in Zürich aufmerksam. Die Veranstaltung trug das Motto «Tasting Not Wasting». Die Schweizer Tafel hat dafür Lebensmittel gesammelt. Das Hotel zauberte mit diesen ein Menu, das dem Spender-Publikum serviert wurde. «Mir hat auf Anhieb gefallen, dass die Schweizer Tafel mit ihrem Konzept gleich zwei Problematiken in einem – nämlich Armut und Foodwaste – angeht», erinnert sich Henry. Er nahm kurzerhand Kontakt mit der damaligen Präsidentin des Gönnervereins auf und engagiert sich seit damals als freiwilliger Helfer für die Stiftung.

Begegnungen auf Tour

Die Arbeit als Beifahrer für die Schweizer Tafel ist sehr vielseitig und bringt eine enorme Bandbreite an menschlichen Begegnungen mit sich. Die Transportfahrten werden jeweils zu zweit unternommen. So trifft Henry immer auf neue Fahrerinnen und Fahrer und verbringt mit ihnen jeweils einen ganzen Tag.
«Ich finde die Unterhaltungen mit den Fahrern – meistens Zivildienstleistende – sehr spannend. Ich interessiere mich sehr für Menschen», sagt er. Als Senior treffe er so auf jüngere Menschen, die sich meist mitten in ihrer Ausbildung befinden. So habe er während den Fahrten auch schon informelle Berufsberatungen gemacht. «Ich konnte sogar schon jungen Fahrern weiterhelfen. Am Ende der Tour wussten sie, was sie werden möchten.»
Impressionen aus dem Schweizer-Tafel-Alltag
Die wohltätige Arbeit von Henry bringt viele eindrückliche Momente mit sich. So erzählt er beispielsweise von seinen Erlebnissen, wenn es darum geht, die Lebensmittel bei Frauenhäusern abzuliefern. Dies sei nicht so einfach, weil der Aufenthaltsort der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen anonym bleiben muss. Deshalb darf die Schweizer Tafel solche Institutionen nicht direkt anfahren, sondern es wird jeweils ein neutraler, öffentlicher Treffpunkt vereinbart.
Es sind die menschlichen Momente und Begegnungen, die ihm als Impressionen bleiben. Er sei einmal mit dem Kühlwagen bei einer Einrichtung der Sozialwerke Pfarrer Sieber vorgefahren und ihm seien einige Bewohner:innen entgegengekommen. Sie schauten zu, wie die Ware ausgesucht und ausgeladen wurde, bedankten sich und sagten, es sei so schön, dass er ihnen diese Lebensmittel bringe. «Diese Freude und Dankbarkeit ist so viel wert», sagt Henry.

«Ein Einkauf mehr»

Dass Foodwaste heute immer mehr diskutiert wird, hat laut Henry Auswirkungen auf die Detailhändler und damit auch auf seine Arbeit. So haben beispielsweise Migros und Coop die «zu verkaufen bis» und «zu verbrauchen bis» Daten abgeschafft und ein einheitliches Datum – das Mindesthaltbarkeitsdatum – daraus gemacht. Früher mussten die Produkte aus den Regalen genommen werden, sobald das «zu verkaufen bis» Datum erreicht wurde. Jetzt orientieren sich die Händler am zweiten Datum. Durch diesen Wechsel haben die Filialen weniger Lebensmittel, die sie nicht brauchen.
Diese Entwicklung sei erfreulich, bedeute aber auch, dass es eine neue Form des Spendens brauche Zum Beispiel könnten künftig Kund:innen direkt vor Lebensmittelläden angesprochen und darum ersucht werden, bei ihrem Einkauf ein Grundnahrungsmittel mehr in ihren Einkaufswagen zu legen. Diese doppelt gekauften Lebensmittel werden anschliessend an die Schweizer Tafel abgegeben als Spende. «Wir befinden uns aktuell in Zürich in einer Pilotphase für eine neue Form des Spendens», meint Henry.
Er hoffe nun, dass sich dieses neue Konzept durchsetzt und so weiterhin armutsbetroffenen Menschen geholfen werden kann. Denn durch die Schweizer Tafel hat Henry gelebte Armut mit eigenen Augen gesehen. Das ist seine Motivation, sich weiterhin für die Schweizer Tafel und mit ihr für die Linderung von Armut und gegen Foodwaste zu engagieren.

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