Drahtesel

Voller Vorfreude beisse ich in das Schokoladenguetzli neben meinem Kaffee: «Mmmh». Das Guetzli und viele weitere Angebote im Restaurant Dreigänger in Liebefeld bestehen aus geretteten Lebensmitteln. Christoph Häberli, ein langjähriger Koch, hat sich in seiner Gastronomielaufbahn schon oft die Frage gestellt, weshalb so viele Lebensmittel im Abfall landen. Seit März 2023 ist er Leiter des Restaurants Dreigänger, welches zur Organisation Drahtesel gehört. Der Drahtesel setzt sich für Menschen ohne Arbeitsperspektiven ein. Mittels Arbeitsintegrationsprogrammen werden Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet, damit sie im Berufsleben nachhaltig Fuss fassen können. Pro Jahr dürfen 775 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter auch Lernende, vom Angebot profitieren. Auch in der Küche von Christoph arbeiten Teilnehmende und Lernende mit. Er meint: «Jeder Charakter hat seine Eigenheit. Es macht mir Freude, mit unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten und ihnen Wissen zu vermitteln, insbesondere im bewussten Umgang mit Lebensmitteln.»

Das Thema Foodsave ist Christoph besonders wichtig. Daher kontaktierte er die Stiftung Schweizer Tafel. James Henzi, Leiter der Region Mittelland, und Christoph entwickelten ein neues Angebot und bald stand ein Foodsave-Menü auf der Menükarte. Das Menü, bestehend aus geretteten, einwandfreien Lebensmitteln, wird jeweils am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag angeboten. Das Menü schmeckt nicht nur lecker, sondern es kann auch günstiger verkauft werden. Dies entlastet insbesondere das Portemonnaie der Programmteilnehmenden. Pro verkauftes Menü gehen CHF 2.- als Spende zurück an die Schweizer Tafel. Ein zusätzliches Angebot ist der kostenlose Obstkorb, wodurch die Teilnehmenden Zugang zu genügend Vitaminen erhalten. Christoph erzählt uns von der letzten Lieferung der Schweizer Tafel «Wir haben unglaublich viele Himbeeren erhalten. Die Schalen wurden im Handel aussortiert, weil ein oder zwei unschöne Himbeeren enthalten waren. So kauft der Konsument die Himbeeren leider nicht mehr. In unserer Küche haben jede einzelne Schale auserlesen. Schliesslich hatten wir 5 grosse Kisten voll mit einwandfreien Himbeeren. Daraus bereiten wir Desserts, Saucen, Smoothies und Konfitüren zu. So können wir den Teilnehmenden vermitteln, dass ein nachhaltiger Umgang mit Essen zwar etwas mehr Zeit in Anspruch nimmt, sich aber am Ende lohnt. Die Smoothies waren jedenfalls schnell vergriffen», meint Christoph schmunzelnd.

Christoph führt uns durch das Restaurant. In der Küche wird für den Mittagsservice alles vorbereitet. Hinten in der Backstube sind frisch gebackene Guetzli zu riechen und aus grossen Töpfen dampft es bereits. Auf einer Ablagefläche stehen die vorbereiteten Obstkörbe. Während unseres Besuchs durften wir auch das Lager des Restaurants besichtigen. Viel Platz hat es nicht. Uns fällt auf, dass auf einem Regal fast nur Eingemachtes steht. «Wenn wir von der Schweizer Tafel Esswaren erhalten, die wir nicht sofort in unseren Menüs oder Obstkörben verwerten können, verlängern wir deren Haltbarkeit. Dies erreichen wir durch Einlegen oder Dörren», erklärt Christoph. Das heutige Foodsave-Menü besteht aus Kartoffelstampf mit Fenchel. Dafür werden selbst eingelegte Trauben als Garnitur verwendet. Wir überzeugen uns gleich selbst und bestellen zu Mittag das Foodsave-Menü.

Seinen Ursprung, wie der Name der Organisation vermuten lässt, hat der Drahtesel in einer Velowerkstatt. Die Gründer der Dachstiftung Sinnovativ, einst noch «Stiftung für Berner Obdachlose», hatten mit einem Wohnförderungsangebot begonnen und wollten ihre Bewohnenden mit einer sinnvollen Arbeit beschäftigen. So entstand die Velowerkstatt Drahtesel. Heute bietet der Drahtesel viele weitere Arbeitsbereiche für seine Teilnehmenden an. Mittels Coachings, Schulungen, Beratungsgesprächen und Arbeitserfahrungen werden die Menschen für eine nachhaltige Arbeitsintegration vorbereitet. Arbeitserfahrungen können im Restaurant, im eigenen Secondhand-Laden, im Veloladen, in der Metallwerkstatt, beim Gartenhandwerk, in der Medienwerkstatt, im Facility Service und im Projekt Restwert gesammelt werden.

Kaspar Gyger, Leiter einer Arbeitsmarktlichen Massnahme, ist seit über 15 Jahren Teil des Drahtesel-Teams: «Ich durfte miterleben, wie sich unsere Organisation über die Jahre weiterentwickelt hat und sich bemüht, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen. Es ist faszinierend, wie die Mitarbeitenden und Teilnehmenden interagieren, wie sich beide Seiten gegenseitig motivieren.» Naemi Wälchli, Leiterin Arbeitsintegration, sagt ebenfalls: «Der Mensch steht im Zentrum. Teilnehmende und Betreuende, wir alle zusammen, sind das Team Drahtesel.»

Nebst dem Drahtesel hat die Dachstiftung Sinnovativ noch zwei weitere Organisationen: Velafrica, welche die Recycling-Velos des Drahtesels in armutsbetroffene Regionen Afrikas liefert, und Wege Weierbühl, die für Menschen in persönlichen Notlagen betreutes und begleitetes Wohnen anbietet.

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2023-12-12T10:37:40+01:00
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