Wie aus einem ehemaligen Nutzniesser der Schweizer Tafel ein Spender wurde
Gleich einem Cowboy aus dem Wilden Westen sitzt Jakob Wampfler an der Bar des «Chez Edy» am Berner Waisenhausplatz. Schwarzer Lederhut, braune Lederjacke über grauer Strickjacke und auffallend währschafte Outdoorschuhe mit sehr dicker Sohle. «Die habe ich nach einem Werbespot, bei dem ich mitmachte, von der Firma geschenkt gekommen», sagt der 52-Jährige in breitestem, bedächtigem Singsang seines Berner Oberländer Dialekts. «Die Schuhe sind so bequem, dass meine Füsse gar nicht schmerzen. Ich habe mal im Vollsuff beide Fersen, beide Fussgelenkknochen und alle Zehen gebrochen.»
Der gebürtige Diemtigtaler bestellt eine Cola und schaut uns mit seinen blauen, klaren Augen erwartungsvoll an. Im Interview überlegt er jeweils eine kurze Weile, bevor er uns antwortet – er spricht langsam, wohl überlegt und manchmal in Wortspielen, zu denen Holzschnitzereien gut passen würden.
Am Suppentag der Schweizer Tafel in Bern haben Sie eine Fünfzigernote in die Spendenurne gelegt.
Jakob Wampfler: Ja, das war es mir wert! Ich finde die Schweizer Tafel eine grandiose Einrichtung, die mich schwer beeindruckt und von der ich auch lange profitierte, als ich in der Gosse war.
Über welche Institutionen haben Sie von Lebensmitteln der Schweizer Tafel profitiert?
Oft habe ich bei der Berner Gassenküche gegessen, manchmal auch bei der Heilsarmee.
In den 23 Jahren, in denen Sie alkohol- und cannabissüchtig waren, waren Sie sicher auch von Armut betroffen.
Ja, in einzelnen Momenten. Es war knapp, und wenn ich Arbeit hatte, setzte ich den grössten Teil meines Lohnes in Flüssiges um. Manchmal konnte ich es mir nicht einmal leisten, einen Kaffee trinken zu gehen. Aber ich hatte Kleider und immer ein Dach über dem Kopf.
23 Jahre lang haben Sie an schwerer Alkoholsucht gelitten, mehrere Selbstmordversuche unternommen, und Sie sind dabei immer wieder im Spital oder in der Psychiatrischen Klinik gelandet. Wie kam es dazu?
Als Teenager hatte ich kein Selbstwertgefühl, ein schwieriges Umfeld und vor allem eine schwierige Beziehung zum Vater. Ich hatte den «Anschiss» und Angst vor dem Leben, deshalb begann ich mich zu betäuben: erst mit Alkohol, später mit Joints. Ich meinte, ich könne das Leben besser aushalten, wenn ich nicht in der Wirklichkeit war.
Sie haben in der Zeit der Sucht aber auch Arbeitsstellen gehabt.
Ja, es hat immer eine Handvoll Leute gegeben, die wider alle Vernunft an mich glaubten: In der Band-Genossenschaft in Bümpliz und dann im eidgenössischen Justizdepartement, wo ich 1992 als Postkurier zu arbeiten begann.
Sie arbeiteten dort, als Sie noch süchtig waren?
Ich versuchte, die Sucht in den Griff zu kriegen, hatte aber immer wieder Rückfälle. Im Sommer 1999 ging es mir gesundheitlich und seelisch so schlecht wie nie zuvor, und ich hatte einen gewaltigen Absturz. Da wäre ich sicher aus dem Bundeshaus rausgeflogen, wenn mir nicht Heinrich Koller, ein damaliger Chefbeamter, noch eine letzte Chance gegeben hätte. Er sagte mir: «Wampfler, wenn Sie nochmals einen Rückfall haben, setze ich Sie sofort und höchstpersönlich vor die Tür.» Dann gab er mir seine Handynummer und sagte: «Sie können mich rund um die Uhr anrufen, wenn es Ihnen schlecht geht und Sie das Reissen bekommen.» Da dachte ich: «Einen solchen Mann kann ich nicht enttäuschen!» Und das habe ich auch nicht: Seit dem 20. August 1999 habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt.
Wie finden Sie Ihr Leben seither?
Heute kann ich fröhlich sein oder sogar ausflippen, ohne Promille in der Birne zu haben. Aber es ist alles andere als einfach, das Leben eins zu eins zu erleben. Wenn ich Zeitung lese oder fernsehe, gibt es jeden Tag mindestens 20 Gründe, für die man sich eine Nadel in den Arm stecken oder eine Flasche Whisky ins Gesicht drücken könnte – aber damit änderst du ja nichts an der Realität, du machst einzig und allein dich selber kaputt.
Im Jahr 2005 haben Sie Ihr Buch «Vom Wirtshaus ins Bundeshaus» veröffentlicht. Sie beschreiben, wie Sie unter anderem auch mit der Hilfe Gottes den Ausstieg aus der Sucht geschafft haben. Wie viele Bücher haben Sie bisher verkauft?
Bisher sind es um die 15 000 Exemplare. Eine Zeit lang war das Buch sogar auf dem 8. Platz der Bestsellerliste – dank dem Schriftsteller Lukas Hartmann, der mich beim Buch beraten hat, gab es einen richtigen Medienhype. Ich gab sehr viele Interviews.
Und Sie haben nicht nur ein Buch geschrieben nach Ihrem Ausstieg aus der Sucht, sondern auch noch die Frau Ihres Lebens gefunden.
Meine liebe Frau Sophie, traf ich exakt anderthalb Jahre, nachdem ich trocken war – und ich bin sehr dankbar dafür, dass das so ist und sie nicht durch diese Hölle gehen musste wie so viele andere Partner und Partnerinnen von Süchtigen.
Jetzt leben Sie nicht mehr in Armut – Sie arbeiten zu 50 Prozent im Bundeshaus und reisen mit Referaten quer durch die Schweiz. Gibt es weitere Dinge ausser Alkohol, auf die Sie aus Rücksicht zu unserem Planeten gern freiwillig verzichten?
Meine Frau und ich kaufen Lebensmittel bewusst ein und fressen uns nicht jeden Tag so voll, dass wir nicht mehr wissen, wo wir sind. Viele Haushaltsgegenstände besorgen wir im Brockenhaus. Da wir in Thun West leben, sind wir ganz in der Nähe von mehreren dieser verrückten Einkaufstempel – aber im Monat Dezember betrete ich die gar nicht erst. Dass in unserem Land Hunde und Katzen die grössere Auswahl haben als in anderen Ländern die Menschen, finde ich hundsmiserabel. Und wieso soll ich aus 50 Sorten Brot auswählen, wenn andere nicht eine einzige Sorte haben? Es ist ein Luxus und eine Prasserei, die zum Himmel schreit – und es beelendet mich, wenn ich sehe, wie die Leute damit umgehen.
Da gehen Sie lieber an den Suppentag der Schweizer Tafel…
(lacht)… ja, oder an das Weihnachtsbankett von Pfarrer Sieber in Zürich! Wenn ich sehe, wie sich diese vielen Randständigen mit grossem Appetit über das Buffet hermachen, jubelt mein Herz.
Haben Sie noch ein schönes Schlusswort für unsere tafelpost-Leserinnen und -Leser?
Seien wir uns bewusst, dass die Zustände, die wir in der Schweiz haben, nicht selbstverständlich sind und auch nicht unbedingt verdient! Wir haben keine Kriege, genug zu essen, keine verrückten Naturkatastrophen. Wir dürfen Menschen, die nichts oder wenig haben, nicht vergessen. Allerdings muss ich hier noch an fügen, dass längst nicht alle von den guten sozialen Einrichtungen, die wir in der Schweiz haben, profitieren wollen: Es gibt viele, denen es gar nicht gut geht, die jedoch lieber verhungern oder verrecken als Hilfe in Anspruch nehmen. Es ist etwas im Schweizer, eine Art Stolz, der das verhindert. Aber jeder hat doch das Recht, gut zu essen, die Leute sollen von den Angeboten profitieren! Das ist doch keine Schande – eine Schande sind die Mengen, die wir fortwerfen, während es so viele Arme in der Schweiz gibt.
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