Michele – Ehemaliger Obdachloser

Michele wuchs im Süden Italiens auf. Seine Familie hat marokkanische Wurzeln, lebt aber seit Längerem in Italien. Michele ist studierter Techniker. Die Realität traf ihn hart, als er nach dem Studium keine Arbeit in seinem Beruf fand. Er hielt sich mit temporären Jobs jeglicher Art über Wasser. Er zog aus dem Süden nach Como in die Nähe von Chiasso und hoffte, dort mehr Glück bei der Jobsuche zu haben. Leider war dem nicht so. Als seine Verzweiflung gross war, schickte die Familie ihm Geld für ein Zugticket. Er selbst hatte kaum noch finanzielle Reserven. Dann kaufte er sich ein Zugticket in die Schweiz. Im Tessin angekommen, hatte er neue Hoffnung und er suchte weiter nach einer Arbeitsstelle. Leider ohne Erfolg. Seine finanziellen Mittel waren nun endgültig aufgebraucht. Er stand auf der Strasse und hatte nichts mehr. Nichts, ausser das, was er am Körper trug. Michele war obdachlos, er lebte auf der Strasse und fragte sich, wie es nur so weit kommen konnte. Er hatte sein ganzes Leben versucht, alles richtig zu machen und Geld zu verdienen. Er war in seinem Leben an einem Tiefpunkt angelangt, von dem er nicht glaubte, dass er vorübergehen würde.

Michele lebte für 18 Monate auf der Strasse. Jeden Tag nach dem Aufwachen wurde er aufs Neue mit den Fragen konfrontiert: «Wo schlafe ich heute Abend? Wie komme ich an Essen?» Per Zufall erfuhr der Italiener von einer Organisation namens Emmaus, welche Obdachlosen ein Bett und eine Mahlzeit anbot. Im Tessin gab es einen Standort. Er nahm all seinen Mut zusammen und ging bei der Organisation vorbei. Ernüchtert musste er feststellen, dass die Wohngemeinschaft kein Zimmer frei hatte. Doch die Mitarbeitenden von Emmaus halfen ihm bei der Suche nach einem freien Bett in einer Partnerorganisation. So kam er nach Etagnières im Kanton Waadt.

Die Wohngemeinschaft nahm Michele auf und stellte ihm ein kleines Zimmer zur Verfügung. Michele war sehr dankbar und konnte es kaum glauben. Die ersten Tage waren sehr emotional. «Ich hatte ein Dach über dem Kopf und musste mich nicht mehr sorgen, wann ich wohl das nächste Mal etwas zu essen bekomme. Es gibt ein Gemeinschaftsbad, wo ich mich waschen kann. So viel Privatsphäre hatte ich schon lange nicht mehr. Hier konnte ich aufatmen und mich neu sammeln. Ich möchte gerne noch etwas bleiben, dann suche ich mir einen Job, eine kleine Wohnung und hofft so im Leben wieder Fuss zu fassen», meint Michele mit einem kleinen Lächeln.

Das Ziel von Emmaus ist es, Menschen von der Strasse zu holen und die Grundsteine für einen neuen Anfang zu legen. So sollen ehemalige Obdachlose ihr Leben wieder selbständig in den Griff bekommen. Eine Tagesstruktur hilft dabei. Wer ein Zimmer bezieht, muss sich in der Wohngruppe einbringen und für den Erhalt der Organisation beitragen, so auch Michele: «Ich arbeite in den Ateliers und teilweise in der Küche und durfte von Gregor, dem Küchenchef, schon viel lernen. Ich helfe bei den Vorbereitungen und auch beim Abwasch. Eine Ausbildung als Koch werde ich zwar nicht starten, aber die Arbeit hilft mir aktiv zu bleiben und erhöht meine Chancen auf einen Job.»

Nebst der Unterkunft, dem Essen und der Tagesstruktur werden die Bewohner auch gesundheitlich unterstützt. Die Organisation bezahlt die Krankenversicherung und organisiert Therapien und Behandlungen. Damien, Co-Leiter der Organisation, erklärt: «Die Krankenkasse deckt vieles ab. Doch wir merken, dass die Bewohnenden weitere Bedürfnisse haben, wofür sie eine Zusatzversicherung benötigen. Eine der freiwilligen Helferinnen ist in der Akupunktur ausgebildet und behandelt unsere Bewohnenden kostenlos. Das wird sehr geschätzt. Die Freude ist gross, wenn sie vorbeikommt, die Behandlung wirke sich positiv auf Körper und Geist aus.»

Wir fragen Michele, ob er sich gut im Emmaus eingelebt hat. Er überlegt kurz und antwortet dann: «Ja, ich fühle mich wohl. Es ist nicht zu vergleichen mit einer eigenen Wohnung oder einem Haus. Aber ich habe einen trockenen und warmen Schlafplatz und habe sozialen Kontakt mit den anderen Bewohnenden. Freundschaften zu schliessen fällt mir immer noch schwer. Ich plane, nicht zu lange hier zu bleiben. Daher ist es für mich nicht einfach, andere Menschen an mich heranzulassen.»

Die Emmaus-Gemeinschaft wird Michele auf seinem Weg unterstützen. «Es gibt Personen, die bleiben nur für ein paar Wochen, andere für ein paar Monate und wiederum andere sind schon seit mehreren Jahren bei uns. Jede Person ist von anderen Erlebnissen geprägt. Wer davor über zehn Jahre auf der Strasse gelebt hat, dem fällt es in der Regel viel schwerer, sich in die Gesellschaft zu integrieren, als einer Person, die für ein paar Monate auf der Strasse lebte», meint Damien. Er fährt weiter: «Das Emmaus bietet eine Basis, doch die betroffenen Personen müssen vieles selbständig leisten. Da fällt mir eine passende Situation ein. Vor kurzen beschwerten sich einige Bewohnende über das harte Brot. Da erhob ein anderer die Stimme und sagte: «Es gibt kein hartes Brot, aber ohne Brot, das ist hart.» Sofort waren alle still und assen dankbar weiter.»

Es sind schätzungsweise 2’200 Menschen in der Schweiz von Obdachlosigkeit betroffen. Weitere 8’000 Menschen sind von einem Wohnungsverlust bedroht. Dies gemäss einer Studie «Obdachlosigkeit in der Schweiz», welche die Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz (FHNW) im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen (BWO) erarbeitet hat.

Helfen Sie uns dabei, Wohngruppen für Obdachlose kostenlos mit Lebensmittel zu beliefern damit Institutionen wie Emmaus substanziell zu unterstützen. Helfen Sie uns dabei, Nahrungsmittel für mehr obdachlose Menschen in der Schweiz zugänglich zu machen.

Letzte Beiträge aus der Rubrik Einblicke

2023-09-18T09:16:11+02:00
Nach oben