Armut – vor 20 Jahren und heute
Interview mit Prof. Dr. Oliver Hümbelin, Sozialwissenschaftler und Armutsforscher an der Berner Fachhochschule.
Die Schweizer Tafel wurde vor 20 Jahren gegründet. Damals war Armut in der Bevölkerung noch ein Tabu. Wie hat sich die Armut in dieser Zeit zahlenmässig, aber auch gesellschaftlich verändert?
Es mag überraschen, aber für die Schweiz liegt keine so lange Zeitreihe zur Armutsquote vor, dass man eine präzise Aussage zur Veränderung des Ausmasses von Armut über diesen Zeitraum machen kann. Das hängt meines Erachtens eben genau auch mit dem Wandel der Wahrnehmung der Problematik zusammen. Lange herrschte die Meinung vor: Wir haben ja alles in der Schweiz, hier muss niemand arm sein; man muss nur wollen. Entsprechend sah man keine Notwendigkeit, genauer hinzuschauen. Zunehmend rückte dann aber ins Bewusstsein, dass es eben doch nicht für alle möglich ist, über die Runden zu kommen, und dass es viele Gründe dafür geben kann. Ein erster wichtiger Verbesserungsschritt ist es, gute Daten zu erheben, um das Phänomen fassen und verstehen zu können. Die Sozialhilfestatistik gibt es beispielsweise seit 2005. Etwas später wurden offizielle Armutsquoten publiziert, die zeigen, dass Armut über den Kreis der Sozialhilfebeziehenden hinausreicht. Heute geht man meines Erachtens nuancierter mit der Thematik um, aber es ist nach wie vor ein politisch stark aufgeladenes Thema.
Teilen Sie die Wahrnehmung der Schweizer Tafel, dass die Armut in der Schweiz aufgrund der Corona-Krise weiter steigen wird?
Ja. Es ist leider davon auszugehen, dass die Armut in der Schweiz als Folge von Corona zugenommen hat. Belastbare Zahlen dazu gibt es noch keine. Erste Studien deuten aber darauf hin. Trotz stützenden Massnahmen des Bundes mussten viele Menschen finanzielle Einbussen hinnehmen. Besonders betroffen waren Menschen mit bereits zuvor tiefem Einkommen. Auch die Arbeitslosenzahlen sind innerhalb eines Jahres deutlich gestiegen: von 118 000 (Februar 2020) auf 168 000 (Februar 2021). Das entspricht einer Zunahme von rund 40 Prozent. Mittlerweile findet eine Erholung auf dem Arbeitsmarkt statt, aber die Arbeitslosenquote ist immer noch hoch für Schweizer Verhältnisse. Weitere 340 000 Menschen sind nach wie vor von Kurzarbeit betroffen (Stand März 21).
Für viele ist offen, wie es weitergeht. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS befürchtet eine Zunahme der Fallzahlen in der Sozialhilfe. Damit stellt sich die Frage, ob eine Normalisierung einkehrt, sobald sich die wirtschaftliche Lage wieder entspannt, oder ob Corona zu einer generellen Ausweitung von Armut in der Schweiz führt.
Welche Faktoren erhöhen das Armutsrisiko?
Oft geht es um den Zugang zu Arbeit, die ein selbsttragendes Einkommen ermöglicht. Dieser ist bei Menschen ohne Bildungsabschlüsse erschwert, aber auch bei Menschen, die Mühe haben, Betreuungspflichten und Erwerbsarbeit zusammenzubringen, wie zum Beispiel Alleinerziehende. Auch gesundheitliche Einschränkungen können ein Armutsrisiko darstellen. Generell sind ausländische Staatsangehörige eher gefährdet, wobei Sprachbarrieren oft eine Rolle spielen. Es geht aber nicht nur um die Frage des Zugangs zu Arbeit, sondern auch um die Frage des Zugangs zu Unterstützung. Wird der Zugang zu Sozialleistungen verschärft, kann dies die Armutsbetroffenheit verschärfen.
Gehen Sie davon aus, dass es durch die Pandemie neue Personenkreise treffen wird?
Die Pandemie traf in der Tendenz eher Menschen, die bereits vorher in prekären Verhältnissen gelebt haben. Viele Ausländerinnen und Ausländer waren beispielsweise besonders betroffen. Das hat aber auch damit zu tun, dass 2019 das Ausländer- und Integrationsgesetz verschärft wurde. Diese Gruppe muss seitdem stärker fürchten, ausgewiesen zu werden, wenn sie Sozialhilfe beantragt. Da wurde es gleich an mehreren Fronten eng. Die Pandemie hat aber auch neue Formen der Bedürftigkeit aufgezeigt. Plötzlich waren beispielsweise viele Selbstständige oder KMUs auf staatliche Unterstützung angewiesen. Diese Gruppen tun sich in normalen Zeiten durch ihr Unternehmertum hervor. Das ging plötzlich nicht mehr und dürfte allgemein zu Schärfung des Bewusstseins für die Notwendigkeit von staatlicher Hilfe in einer Krise geführt haben – egal ob es sich nun um eine individuelle oder eine gesellschaftliche Notlage handelt.
Was bedeutet das für die sozialen Einrichtungen?
Ein mögliches Szenario ist, dass innerhalb kurzer Zeit mehr Menschen auf Unterstützung ausserhalb der staatlichen Strukturen angewiesen sein werden. Das kann organisatorisch herausfordernd werden. Es wird davon abhängen, ob die Unterstützungsmassnahmen aufrechterhalten bleiben, bis eine wirtschaftliche Stabilisierung stattgefunden hat, und auch davon, wie gut jenen geholfen wird, die als Folge von Corona ihre Stelle verloren haben und den Wiedereinstieg nicht schaffen.
Welchen gesellschaftlichen Stellenwert messen Sie Organisationen wie der Schweizer Tafel heute bei?
Institutionen wie die Schweizer Tafel sind wichtig. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist neben dem Wohnen die unmittelbarste Form der Linderung der Folgen von Armut. Es ist ganz entscheidend, dass solche Angebote bestehen. So kann direkt geholfen werden, ohne langwierige Abklärungen und Anträge. Das ist besonders in einer Krisensituation entscheidend. Gleichzeitig wird bei einem Angebot wie jenem der Schweizer Tafel einem zweiten drängenden Problem, dem Foodwaste, entgegengewirkt. Da werden gleich mehrere gesellschaftliche Herausforderungen angegangen. Das finde ich gut.
Gibt es etwas, das Sie der Schweizer Tafel für die Zukunft mit auf den Weg geben möchten?
Weiter so.
Prof. Dr. Oliver Hümbelin, geboren 1981 in Spartanburg, S.C. US.
Studium der Soziologie, Medienwissenschaften und Ökonometrie in Bern und Leipzig. Seit 2020 ist er Dozent und Forscher im Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule. Er ist zudem Co-Studiengangleiter CAS Datenanalyse. Zu seinen Schwerpunkten gehören unter anderem Ungleichheit und Armut in der Schweiz. Er ist Autor zahlreicher Publikationen.
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